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Raimund Kalinowski

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Wieviel Steuerung verträgt der Mensch?

Schalt- und Steuerungsanlagen werden stetig weiterentwickelt – bleibt dieser Fortschritt immer beherrschbar?

Sprache lebt: Wenn über die Hälfte einer Schulklasse denselben Fehler macht, wird er nicht als Fehler gewertet, denn offensichtlich wandelt sich gerade die Sprache. Bis dies in den Duden einzieht, dauert es eine gewisse Zeit und irgendwann ist das, was lange Zeit richtig war, nun falsch. Es gab z.B. eine Zeit, da gab es introvertierte und extravertierte Menschen. Inzwischen kennt der Duden auch extrovertierte Menschen, möglicherweise werden wir im nächsten Science-Fiction Thriller von „extroterrestrischen“ Wesen angegriffen? Wird etwas automatisch richtig, nur, weil die Mehrheit es so macht? Wenn ein großer Anlagenbauer entscheidet den seit vielen Jahren üblichen Lieferumfang zu reduzieren, sollten ihm dann alle folgen und den Standard herabsetzen, weil dies „fortschrittlich“ ist.

Aufgrund länderspezifischer Unterschiede bei Hard- und Software, wird in diesem Artikel primär die Entwicklung der Automatisierung in Deutschland mit SIEMENS-Hardware betrachtet.

Entwicklung

Bevor sich die Schützensteuerung (Abb. 1) durchsetzte, waren „automatische“ Steuerungen mechanisch oder pneumatisch/hydraulisch. Die Betätigung der Ventile eines Verbrennungsmotors durch die Nockenwelle ist hierfür ein Beispiel das auch heute noch üblich ist.

Der Stromlaufplan der Schützensteuerung ist das „R+I-Schema“ des Elektrotechnikers, nur, dass in den Leitungen Strom fließt. Auch ein Brauer kann nach kurzer Einweisung einen Stromlaufplan lesen.

Mattenschaltwerke zur Steuerung der Weichen in der Mälzerei und Zeitrelais in Art einer Eieruhr (Abb. 2) zur Steuerung der CIP-Zeiten sind auch von Analphabeten parametrierbar und Regler waren sparsam verwendete teure Hardwarebausteine mit sehr wenigen Einstell-„Schrauben“. Wenn möglich wurde auf diese Regler zu Gunsten elektromechanischer, hydraulischer oder pneumatischer Lösungen verzichtet. Als in den 1970-er Jahren es die ersten speicherprogrammierbaren Steuerungen [SPS] in die Schaltschränke von Maschinen und Anlagen schafften, wurden Brau- oder Elektromeister auf einwöchige S3-Schulungen geschickt, um z.B. einmal eine Prozesszeit verändern zu können ohne einen Programmierer bestellen zu müssen. Häufig trauten sie sich dies jedoch trotz der Schulung nicht zu. Um z.B. die Einmaischtemperatur oder die Würzekochzeit einfach verändern zu können, hatten gute Programmierer deshalb Parameterlisten angelegt, sodass man die Variablen nicht mehr in den Tiefen des Programms suchen musste. Diese komfortable Benutzerschnittstelle ist inzwischen in Vergessenheit geraten. Erst mit der S5 führte Siemens 1979 eine recht zuverlässige und im Vergleich zur S3 extrem komfortabel programmierbare SPS ein.

Manche erinnern sich, der PC gehörte 1984 ‑ fünf Jahre nach Vorstellung der S5 ‑ noch nicht zur Standardbüroeinrichtung und kostete mit kleinem Monochrom-Bildschirm (Abb. 3) und Drucker so viel wie ein fabrikneuer VW Golf GTI. PCs liefen mit dem Betriebssystem DOS von Microsoft oder Digital Research und es gab noch kein WYSIWYG und der Ausdruck musste aufwändig mit Publishing-Programmen gestaltet werden. Textverarbeitung und Tabellenkalkulation waren zueinander nicht kompatibel, eine DoubleDensity 3,5“ Diskette mit 720 kB Speicherkapazität kostete über 10 DM pro Stück. Bei diesem spezifischen Speicher-Preis würde ein 256 GB USB-Stick heute 1,8 Millionen Euro kosten. Maschinen und Anlagen die von einer SPS gesteuert wurden, hatten weiterhin Leuchttaster auf dem Mosaikfließbild und unterschieden sich in der Anwender-Bedienung kaum von einer Schützensteuerung. Um die Bedienung zu vereinfachen, kombinierten einige Lieferanten die beliebten mechanischen Zeitrelais und auch Hardwareregler mit einer SPS. Erst als Visualisierungen mit grafischen Oberflächen eingeführt wurden, ersetzten Bildschirme die Leuchttaster. Anfang der 1990-er wurde die Leittechnik eingeführt. Jeder Prozessbaustein wurde nun zentral verwaltet. Die „Intelligenz“ befand sich nicht mehr in der SPS, sondern im PC. Da die Leittechnik häufig teurer verkauft wird als eine SPS-Programmierung mit Visualisierungssoftware, konkurrieren heute beide Systeme miteinander.

Visualisierungssoftware und die Software eines Leitsystems sind Anwenderprogramme, die häufig auf einem PC mit Windows-Software laufen. In der Vergangenheit passierte es, dass alte Windowsversionen auf aktueller Hardware nicht mehr funktionsfähig waren, sodass ein PC mit 80386 Prozessor auf einmal unverhältnismäßig wertvoll war, da die Visualisierungs- oder Leitsystemsoftware eine alte, mit moderner Hardware nicht mehr kompatible Windowsversion verlangte.

Bei Maschinen oder Kleinanlagen werden seit über 20 Jahren Bedienfelder [Operator Panel], die manchmal mit einer SPS kombiniert sind (Abb. 4) eingesetzt.

Motivationsgrundlagen

Die Leittechnik und die allgemeine Entwicklung dorthin bietet überzeugende Argumente: Durchdachte, vollständig ausgetestete, perfekt programmierte Bausteine werden verwendet, um eine optimale Steuerung zusammen zu setzen. Individuelle, „künstlerisch wertvolle“ Lösungen, die unzureichend dokumentiert und nur mit erheblichem Aufwand zu pflegen sind, gehören endgültig der Vergangenheit an. Durch den modularen Aufbau wird hochqualifizierte Programmierarbeit nur bei der Erstellung der Funktionsbausteine benötigt und deshalb könnten Verfahrenstechniker durch eine Weiterbildung zum idealen Programmierer werden. Leider stehen nicht genügend erfahrene Braumeister zur Verfügung, die den Anforderungen der Steuerungsfirmen genügen.

Für die Bedienung und Parametrierung stehen sehr komfortable Schnittstellen zur Verfügung, sodass jeder Brauer ohne fremde Hilfe vor Ort in der Lage ist, die Steuerung der Prozesse seinen Wünschen einfach anzupassen.

Wunsch trifft Wirklichkeit

Neben der komfortablen Parametrierung und Bedienung sollte durch die standardisierten Module eigentlich ein Kosten- und Lieferzeitvorteil entstehen. Da der Aufwand zur Erstellung einzelner Bausteine erheblich ist ‑ ein großer Hersteller von Prozessleitsystemen veranschlagt z.B. im Mittel 80 Arbeitsstunden zur Erstellung eines einzigen Leitsystem-Bausteins ‑ müssen diese Bausteine entsprechend häufig und lange verwendet werden, bis die Entwicklungskosten bezahlt sind. Die „Baustein“-Entwickler denken in der Regel als Elektriker; es ist für sie unerheblich ob eine Pumpe oder ein Ventilator eingeschaltet werden soll, entsprechend „liebevoll“ wird die grafische Gestaltung häufig durchgeführt. Nach dem Motto: „Wer zuerst kommt, wird zuerst bedient“ werden manchmal exotisch anmutende, nicht normgerechte und nicht selbsterklärende Symbole dauerhaft implementiert. Da die Bausteine alle in der Praxis vorkommenden Anforderungen abdecken sollen, sind sie sehr komplex und der Inhalt und die Strukturierung des Anwenderinterfaces sind häufig nicht logisch nachvollziehbar. Wenn es zur Änderung eines Regelparameters (Abb. 5) fünf verschiedene Anleitungen ‑ je nach Softwarestand des Bausteins ‑ gibt, dann sind mindestens vier Versionen dieses Bausteins nicht optimal durchdacht gewesen. Wenn dann noch weite Bereiche in „english for runaways“ bezeichnet werden, bekommt das Leitsystem zu Recht praktische Akzeptanzprobleme.

Bauteile, die nicht angesteuert werden, sind für Steuerungsleute vollkommen uninteressant und werden deshalb meistens nur widerwillig in die Visualisierung übernommen. Wenn in der Schaltwarte ein ausgedrucktes R+I-Schema hängt ‑ da die Visualisierung dem Bediener bestimmte Informationen nicht bietet ‑ dann wurde der erforderliche Lieferumfang mit ziemlicher Sicherheit bei den Auftragsverhandlungen nicht in der nötigen Tiefe besprochen.

Abb. 1 Schaltschrank mit Schützensteuerung

Abb. 2 Zeitrelais

Abb. 3 übliche Darstellung hochwertiger monochrom Bildschirm

Abb. 4 Siemens C 7-621 Komplettgerät in Kombination mit Fließbild

Abb. 5 „typische“ Reglerparametrierung - Leitsystem

Allgemein anerkannte Regeln?

Zur Zeit der Schützensteuerung wurde grundsätzlich der Motorschutzschalter überwacht. Inbetriebnehmer wünschten sich zusätzlich die Überwachung der Schmelzsicherungen, da sich diese regelmäßig in der Hosentasche des Arbeiters befanden, der sie zum Eigenschutz herausgeschraubt und sicher verwahrt hatte.

Die Überwachung der Schmelzsicherung war jedoch aufwändig und wurde selten implementiert. Später gab es Motorschutzschalter mit integrierten Sicherungen, die entsprechend einfach überwacht werden konnten. Heute kommt es regelmäßig vor, dass eine ausgefallene Pumpe als „laufend“ visualisiert wird, weil nicht einmal der Motorschutzschalter überwacht wird.

So wie früher mit einem kurzen Kabel eine Brücke gelegt wurde, damit trotz eines mechanischen Fehlers weiter produziert werden konnte, wird heute das Bauteil komfortabel mit der Software als funktionierend simuliert. Da es selten durchdachte und praktikable Berechtigungssysteme gibt, sind „Supervisor“-Kennwörter für den normalen geregelten Betrieb erforderlich und ermöglichen dadurch auch, dass nicht akzeptable Zustände auf einmal zum Normalbetrieb gehören.

Aus Zeitmangel und Kosteneinsparungsgründen werden weder ein Lastenheft noch eine Verfahrensbeschreibung erstellt. Vorgaben werden von Softwareingenieuren regelmäßig nicht verstanden und deshalb nicht korrekt umgesetzt und die „Dokumentation“ der Steuerung ist mit vertretbarem Aufwand unüberprüfbar.

Wenn man hört, dass beim Kernkraftwerk Fukushima ein Notkühlkreislauf installiert war, der auch ohne Pumpen, einfach durch die Dimensionierung und Anordnung der Bauteile eine Notkühlung aufrechterhalten konnte, dass aber beim totalen Stromausfall ein Ventil in die „Sicherheitsstellung geschlossen“ fuhr und dadurch den Notkühlkreislauf abschaltete, drängt sich die Frage auf: Wäre die „Sicherheitsstellung offen“ nicht sinnvoller gewesen? Gerade bei automatisierten Prozessen ist es erforderlich die Ruhestellung bei Energieausfall oder das Verhalten bei Not-Aus sorgfältig auszuwählen. Alles sofort „Aus und Zu“ widerspricht den allgemein anerkannten Regeln der Technik, da es eine äußerst riskante und gefährliche Lösung nicht nur im KKW ist. „Federöffnend“ als Ruhestellung von Ventilen in Rohrleitungen ist meist sinnvoll, so wie Endlagenrückmeldungen als Öffner ausgeführt, häufig Vorteile bietet. Wenn ein Filtratbiertank den Druck in der Leitung sicherstellen kann, wird es kaum zur CO2-Entbindung in der Rohrleitung kommen. Volumenänderungen durch Temperaturänderungen sind unproblematisch, wenn die Rohrleitung offen zu einem Tank ist.

Programmierer zerlegen ein Programm in überschaubare Schrittketten. Das führt regelmäßig dazu, dass unsinnigerweise am Ende einer Schrittkette eine Pumpe ausgeschaltet wird, um beim unmittelbar folgendem Start der nächsten Schrittkette sofort wieder eingeschaltet zu werden. Dazwischen werden noch die „Startbedingungen überprüft“, sodass der Start der folgenden Schrittkette manchmal nicht erfolgt, weil gerade ein Bauteil gewartet wird, das bei dem zu produzierenden Produkt gar nicht benötigt wird.

Feldgeräte

Mess- und Regelungstechniker waren früher das Bindeglied zwischen Maschinenbauer und Steuerungstechniker. Die Auswerteelektronik ist heute in der Regel Bestandteil des Messwertaufnehmers, sodass die Steuerung entweder ein analoges 4...20 0mA Signal oder umfangreiche Informationen über einen Datenbus erhält. Die Feldgeräte, die in der Anlage eingebaut werden, wählt der Auftragsabwickler aus, der hierfür häufig als Maschinenbauer oder Verfahrenstechniker nicht ausreichend qualifiziert ist.

Die häufigsten Fehler findet man bei der Auswahl von Füllstands- und bei Druckmessungen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen werden Absolutdruckmessungen benötigt, denn weder der CO2-Sättigungsdruck noch die Würzekochtemperatur sind vom Relativdruck abhängig. Vom Absolutdruck einfach den mittleren Luftdruck abzuziehen, damit der Bediener einen „verständlicheren“ Wert angezeigt bekommt, ist nicht nur für Bediener verwirrend, denn wenn auf einmal Negativwerte angezeigt werden oder in drucklosen Tanks ein Überdruck angezeigt wird, ist dies für jeden ersichtlich falsch. Falls der Relativdruck angezeigt werden soll, dann muss der tatsächliche Umgebungsluftdruck gemessen und entsprechend abgezogen werden. Für einen Brauer sollte die Anzeige des Absolutdrucks hingegen deutlich aussagefähiger sein, sofern er nicht prüfen will, ob ein Tank drucklos ist und gefahrlos geöffnet werden kann.

Unterschiedliche Medien haben unterschiedliche Dielektrizitätskonstanten, sodass kapazitive Füllstandssonden nur in dem Produkt richtig anzeigen, mit dem sie kalibriert wurden. Ferner erschweren Einbauten ‑ die solche Sonden darstellen ‑ grundsätzlich die Reinigung.

Fazit

Die Festlegung der Ruhestellung von Ventilen, Ausführung von Endlagenrückmeldungen und Verriegelungen sowie die Auswahl und Ausführung der Feldgeräte dürfen weder dem Anlagenbauer noch der Steuerungsfirma überlassen werden. Wenn eine automatische Steuerung nicht mindestens das leistet, das ein gut ausgebildeter und motivierter Brauer leisten kann, darf das nicht akzeptiert werden. Eine Bedienungsanleitung sollte auch beschreiben, wie man z.B. einen Regelparameter ändert. Unglücklicherweise können auch Selbstverständlichkeiten nicht immer vorausgesetzt werden, sodass der Anlagenbetreiber vor Auftragsvergabe ein gut ausformuliertes Lastenheft, das auch Vertragsbestandteil wird, erstellen muss. Gegenwärtig sind noch mehr sehr alte Schützensteuerungen in Betrieb als z.B. SIEMENS S3 SPS, dass heißt die wirtschaftliche oder funktionelle Obsoleszenz der moderneren Steuerung bleibt regelmäßig unbeachtet.

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© 2015 by Raimund Kalinowski