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Raimund Kalinowski

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Sind Normen eindeutiger formuliert als Gesetze?

Zur Auswahl von Rohrleitungen in der Getränkeindustrie

Gerichte sollten überflüssig sein, denn der Gesetzgeber sollte eigentlich für alle potenziellen Konflikte verständliche Regeln (Gesetze) aufgestellt haben, mit denen alle gut leben können. Aber die Gerichte sind ausgelastet und Anwälte für Vertragsrecht formulieren lange Geschäftsbedingungen oder Datenschutzeinschränkungserklärungen, um ihren Auftraggebern einen vermeintlichen Vorteil zu verschaffen und die eigentlich für alle gültigen Gesetze zu umgehen. Aber auch wenn diese Juristen nicht versuchen ihrer Mandantschaft Vorteile zu verschaffen, lassen Gesetze in der Regel genügend Auslegungsspielraum zu. Kommentare zu den Gesetzen füllen viele Seiten. Glücklicherweise ist die Technik aus Sicht der Juristen viel unkomplizierter, durch ein paar Normen können auch komplexe Anlagen bis ins Detail eindeutig beschrieben werden? Aber wie entstehen Normen? Sitzen dort Vertreter einiger Interessengruppen zusammen und beschließen Kompromisse? Besteht ein solcher Kompromiss regelmäßig aus Formulierungen, die allen Beteiligten Hintertüren zu ihren eigentlichen Interessen einrichten? Haben technische Normen tatsächlich eine höhere Qualität als Gesetze? Sollten technische Normen durch vertragliche Klauseln ergänzt oder sogar ersetzt werden?

Grundsätzliches

Sicherlich gibt es technische Normen, die ähnlich eindeutig formuliert sind wie die §§ 961ff BGB (Regeln für Imker die ihr ausgerissenes Bienenvolk verfolgen), aber sie sind genauso selten. Da Gesetze und technische Normen auf Erfahrung aufbauen und deshalb nur vorhersehbare Ereignisse berücksichtigen, sind sie grundsätzlich vergangenheitsorientiert und können zukünftige Entwicklungen und die Kreativität von „Gaunern“ kaum berücksichtigen. Auch wenn es nicht möglich ist einen Vertrag „100% wasserdicht“ zu machen, so macht es trotzdem Sinn alle wesentlichen Punkte in einem schriftlichen Vertrag zu vereinbaren. Insbesondere Fehler, die bereits (auch von anderen) gemacht wurden, sollten nicht wiederholt werden.

Bei der umsatzstärksten Lieferantin zu kaufen, weil sie vermutlich schon lange nicht mehr im Geschäft wäre, wenn es eine nennenswerte Anzahl an Reklamation gäbe, ist eine Hoffnung, die nichts nützt, wenn man zu dem nicht nennenswerten Anteil gehört (Abb. 1 und Abb. 2). Ein hoher Preis garantiert zwar keine hohe Qualität, ein niedriger Preis hingegen muss irgendwie realisiert werden. Der Hinweis auf die Handelsmenge und entsprechende Mengenrabatte ist ebenso falsch, wie der Hinweis auf Niedriglohnländer. Rohre z.B. werden heute vollautomatisch hergestellt und der Preis besteht im wesentlichen aus den Materialkosten und den Kapitalkosten für die Fertigungsmaschinen. Nicht durchgeführte Produktionsschritte und -prüfungen oder „gedehnte“ Toleranzen und die Verwendung von Werkzeugen, die die Verschleißgrenze überschritten haben, können die Herstellungskosten reduzieren.

Rohrlaengsnaht

Abb. 1 Rohrlängsnaht eines Rohres bei dem die „gesamte Lieferung zu keiner weiteren Reklamation führte“

Innennaht

Abb. 2 Endoskopische Aufnahme: Rohrlängsnaht

Gebräuchliche Normen

In der Getränkeindustrie wird üblicherweise längsnahtgeschweißtes Rohr nach DIN 10357 (Nachfolgenorm der DIN 11850) eingesetzt. Für molchbare Leitungen sollten Leitungen nach DIN 2430-1 zur Anwendung kommen; sie sind aber auch für andere Leitungen wegen der engeren Toleranzen erwägenswert. Als Werkstoff wird meistens 1.4307 (~AISI 304L, „V2A“) oder 1.4404 (~AISI 316L, „V4A“) verwendet; statt 1.4307 wird auch noch 1.4301 (entsprechend ungefähr AISI 304) statt 1.4307 angeboten. Die in der pharmazeutischen Industrie üblichen nahtlosen Rohre werden in der Getränkeindustrie nicht eingesetzt, da man die Innenoberfläche als zu rau und den Preis als zu hoch empfindet. Negative Erfahrungen mit den Rohrlängsnähten und die Problematik der Definition von vorbildlich ausgeführten Rohrlängsnähten haben die pharmazeutische Industrie dazu bewogen, die längsnahtgeschweißten Rohre für viele Anwendungen zu ächten. Es ist technisch möglich die Längsnaht eines Rohres so auszuführen, dass sie keinen Schwachpunkt darstellt. Leider befinden sich Mängel an längsnahtgeschweißten Rohren überwiegend im Bereich der Schweißnaht. Diese Mängel führen fast immer zu einem Streit, bei dem der Lieferant unterstellt, dass die Rohre „unfachmännisch“ genutzt (i. d. R. gereinigt) wurden. Der Preisunterschied beträgt für ein Rohr in der Nennweite DN50 gekauft beim teuersten Hersteller im Vergleich zum billigsten Händler in Deutschland in der Regel weniger als 3€/m. Die Installationskosten bzw. die Kosten für einen Austausch übersteigen praktisch immer die Bauteilkosten sehr deutlich. Es scheint häufig unmöglich zu sein einen Entscheider dazu zu bewegen das teurere Produkt mit der identischen (unzulänglichen) Spezifikation zu kaufen. Häufig wird dem Anlagenbauer oder der Montagefirma die Auswahl der Lieferanten für Rohre und Rohrformteile überlassen. Dieser kauft die Teile regelmäßig beim billigsten Händler ein ohne dass er den Hersteller genannt bekommt. Wer glaubt, im Reklamationsfall Vorteile durch dieses Vorgehen zu haben, weil er nur einen Ansprechpartner für Material und Montage hat, wird regelmäßig enttäuscht werden.

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Abb. 3 Warum wird eine Rohrlängsnaht mechanisch so bearbeitet?

Vorsorge

Was kann man tun, wenn andere über den Hersteller der Rohre und Bauteile entscheiden? Natürlich sollte man in der Bestellung die Normen anführen, auch wenn deren Einhaltung nur begrenzten Nutzen bietet, so sind sie doch nicht vollkommen nutzlos. Die alte amerikanische AISI mit drei Ziffern beschreibt nur eine Produktgruppe. Die in Europa übliche Bezeichnung z.B. 1.4307 entsprechend X2CrNi18-9 beschreibt den Werkstoff präziser als AISI 304L. Die häufig anzutreffende Bezeichnung 1.4307/304L sollte vermieden oder bewusst verwendet werden, denn hier kann der Lieferant sich offensichtlich aussuchen, was er liefert. In der Regel wird die „Materialgüte“ durch eine Materialverwechslungsprüfung mittels Röntgenfluoreszenz (RFA) oder Funkenspektroskopie (OES) „ermittelt“. Erst wenn Mängel auftreten, die mit den üblichen Prüfungen nur unzureichend zu erklären sind, werden andere Prüfverfahren verwendet oder neue Prüfverfahren entwickelt. So wurden Chromkarbid-„Körner“ im Edelstahl rostfrei nachgewiesen, die beim Stahlkochen entstanden sein müssen und die die Korrosionseigenschaften deutlich vermindern, da das Chrom, das zwar in der Massenanalyse erscheint, nun aber an der Oberfläche fehlt, um dort eine schützende Chromoxidschicht auszubilden.

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Abb. 4 Lochkorrosion im Bereich einer Rohrlängsnaht

Da die Mängel überproportional häufig im Bereich der Rohrlängsnaht auftreten, sollte man pedantisch darauf achten, dass diese sich im eingebauten Zustand weder oben noch unten im Rohr, sondern seitlich befindet. Vertraglich kann man (kostenneutral) vereinbaren, dass Rohrlängsnähte, die sich im oberen oder unteren Bereich eines montierten Rohres befinden als erheblicher Mangel zu betrachten sind und dass eine Abnahme damit unmöglich ist. Die Einrede, dass eine Korrosion ursächlich auf Ablagerungen im oder auf dem Rohr zurückzuführen ist, kann man dadurch von Korrosion die auf fehlerhafte Rohrlängsnähte zurückzuführen ist, sicher trennen. Wenn Korrosion aufgetreten ist, sollte man die Einbaulage vor der Demontage kennzeichnen und durch Fotos dokumentieren.

Wareneingangsprüfung

Zu verwendendes Material sollte zu 100% einer Wareneingangsprüfung unterzogen werden, die sehr einfach sein darf. Bei vorgefertigten Baugruppen oder Funktionseinheiten sollte die Wareneingangsprüfung analog durchgeführt werden. Die Art der Wareneingangsprüfung sollte vertraglich vereinbart werden. Zur Wareneingangsprüfung gehört immer eine Sichtkontrolle. Kontaktkorrosion inkl. „Flugrost“ sollte zur Ablehnung führen dürfen. Rohre und Rohrformstücke weisen immer eine gewisse Ovalität auf. Auch Abweichungen im Rohrumfang kommen in der Praxis vor. Ovalität wird während der Montage durch entsprechendes Werkzeug bis zur Verschweißung „ausgeglichen“. Dabei wird das Rohr oder Rohrformstück jedoch nicht bleibend verformt, sondern unter entsprechender (bleibender!) Spannung fixiert. Die sehr großzügigen Toleranzen der Normen werden regelmäßig nicht eingehalten. Eine Abweichung der Rundheit sollte sich auf die Materialstärke und nicht auf eine prozentuale Abweichung des Solldurchmessers beziehen. Ein 90°-Rohrbogen, der automatisch gefertigt wurde, sollte eigentlich nicht 89° oder 92° aufweisen können, trotzdem befinden sich solche Bögen im Handel. Ob man Toleranzen vorgibt oder die Lieferanten auffordert die geringstmöglichen Toleranzen im Angebot (ggf. mit Mehrpreisen zu „normgerecht“) zu nennen, hat Vor- und auch Nachteile. In beiden Fällen wird man die Toleranzen in der Auftragsverhandlung diskutieren müssen und als individuell vereinbarten Vertragsbestandteil aufnehmen.

Bei der Kaltverformung von austenitischem Edelstahl wird teilweise das Gefüge von austenitisch zu martensitisch verändert. Durch jede weitere Kaltverformung erhöht sich der Martensitanteil. Durch eine kontrollierte Wärmebehandlung („geglüht“), kann Martensit wieder in Austenit überführt werden. Bis Anfang der 1990-er Jahre wurde jeder in der Bundesrepublik Deutschland gefertigte Rohrbogen aus wärmebehandeltem Rohr gefertigt, um das bei der Rohrherstellung entstandene Martensit wieder in Austenit zu überführen. Heute werden wie selbstverständlich Rohrbögen in BC- und CC-Ausführung angeboten und nur wenige Kunden wissen, die Bezeichnungen stehen dafür ob der Bogen aus geglühtem (BC) oder aus ungeglühtem Rohr (CC) hergestellt worden ist. Die günstigen Korrosionseigenschaften von Edelstahl rostfrei werden erst durch das austenitische Gefüge erreicht. Der Gehalt an Martensit sollte deshalb so gering wie möglich sein. Da Martensit magnetisierbar ist, kann austenitischer Edelstahl rostfrei mit einem Magneten einer Grobprüfung unterzogen werden. Wenn ein Neodym-Magnet als Würfel mit 5mm Kantenlänge sein eigenes Gewicht (ca. 1,4g) an einem Bauteil aus Edelstahl rostfrei hängend tragen kann (Abb. 5), dann deutet es auf einen nennenswerten Martensitanteil mit entsprechend verminderter Korrosionsbeständigkeit hin.

Unerwartete Abweichung

Während der automatischen Fertigung der Rohre wird üblicherweise ein Schweißzusatzwerkstoff verwendet, der aus höherwertigem Material als das eigentliche Rohr besteht. In der Praxis kommt es jedoch vor, dass hier gespart wird (Abb.4), denn die Norm schreibt keinen höherwertigen Schweißzusatzwerkstoff vor. Die Breite der Rohrlängsnaht sollte möglichst gering sein und sich ggf. an der Materialdicke orientieren und als Toleranz vertraglich vereinbart werden. Die meistens verwendeten metallisch-blanken aus kaltgewalzten Blechen hergestellten Rohre sind vom Hersteller der Rohre mit diversen Informationen bedruckt. Fehlt diese Bedruckung oder liefert jemand ohne Mehrpreis „höherwertiges“ geschliffenes Rohr, ist ein gewisses Misstrauen häufig begründet. Wenn die Rohrlängsnaht außen mechanisch bearbeitet wurde, drängt sich die Frage auf: Warum? (Abb. 3) Die Empfehlung ein höherlegiertes Material zu wählen, um eventuelle Verarbeitungstoleranzen auszugleichen, sollte mit Argwohn begegnet werden.

Technisch ist es möglich fein-kalibrierte, d.h. tatsächlich kreisrunde Rohre zu fertigen und nicht nur Rohre, sondern auch Rohrformstücke wärmebehandelt anzubieten. Der Einsatz von solchen Bauteilen ist jedoch in der Getränke- und Lebensmittelindustrie unüblich, d.h. das Martensit, das bei der letzten Kaltverformung entsteht, wurde bei der Spezifikation der Korrosionseigenschaften des Werkstoffs berücksichtigt.

Weder komplette Tanks und Apparate noch ihre Hauptbestandteile können in der Regel wärmebehandelt werden. Die Art der Kaltverformung bestimmt auch hier die Gefügeveränderung. Der zuvor genannte Magnet kann auch als kleiner Baustein bei der Prüfung von z.B. Behältern verwendet werden.

Fazit

Ein großer Lebensmittelproduzent, der Produkte mit über 10% Kochsalzgehalt herstellt, verwendet nur 2 metallische Werkstoffe: Werkstoff 1.4301 für kaltes Produkt und Titan für warmes Produkt.

Bauteile mit gefälschten Zertifikaten zu liefern ist billiger als korrekte Bauteile ohne Zertifikate herzustellen. Auch in der Airforce One wurden bereits gefälschte Bauteile entdeckt, es ist aber ein Gerücht, dass der US-Präsident deshalb entschieden hätte zukünftig alle Ersatzteile beim billigsten Anbieter in der „Bucht“ zu bestellen.

Ein Hersteller von Scheibenventilen hat bis in die 2000-er Jahre hinein 100% seiner Ventile elektrolytisch poliert und eine 100% Funktions- inkl. Druckprüfung durchgeführt. Die Kaufentscheider meinten jedoch dies wäre kein Mehrwert.

In der Regel kommt es nicht zu Korrosion oder sonstigen Mängeln, weil das falsche Material oder das falsche Bauteil ausgewählt wurde, sondern fast immer liegen als Grund Verarbeitungsmängel vor, die häufig schwierig zu erkennen und zu beweisen sind und zu deren Verhinderung Vertragstexte nicht taugen. Statistiken und relative Verhältnisse dienen primär dem Selbstbetrug. Preisunterschiede sollten immer absolut und nicht prozentual betrachtet werden. Wenn ein potenzieller Lieferant die Hersteller (nicht Lieferanten!) der eingesetzten Bauteile nicht nennen will oder kann, sollte dies entsprechend stark in die Bewertung einfließen.

Vertragstexte und Verhandlungen können Mängel kaum verhindern, aber sie helfen den richtigen Lieferanten auszuwählen. Da das Auftreten von Mängeln nicht immer sicher verhindert werden kann, sollte man vertraglich vereinbart haben, wie damit umgegangen werden soll.

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Abb. 5 Neodym-Magnet (Würfel, 5mm Kantenlänge) der an einer magnetisierbaren Längsnaht problemlos sein eigenes Gewicht trägt

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